K. M. Coleman (Hrsg.): Martialis liber spectaculorum

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Titel
M. Valerii Martialis liber spectaculorum. Edited with introduction, translation, and commentary


Herausgeber
Coleman, Kathleen M.
Erschienen
Oxford u.a. 2006: Oxford University Press
Anzahl Seiten
LXXXVIII, 322 S.
Preis
£ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Keine Frage: Martial zählt zu den heißen Autoren der Silbernen Latinität. Seine epigrammatische Dichte macht ihn aber auch zu einem der voraussetzungsreichsten – und einen Kommentar zum unverzichtbaren Begleiter jeder ernstlichen Lektüre. Friedländers großer Wurf (1886) beherrschte das Feld zwei Generationen lang – in denen es ansonsten eher still blieb um den spanischen Autor. Doch seit der Renaissance, welche die Martial-Studien seit Anfang der Neunziger erleben (seit Shackleton Baileys Teubneriana von 1990 und Sullivans „Martial, the unexpected classic“, 1991), hat das Blatt sich spürbar gewendet. Einer der erfreulichsten Nebeneffekte: Zu fast allen fünfzehn Büchern liegen inzwischen moderne Kommentare vor – darunter Arbeiten von bleibender Qualität.1

Eine der letzten (und schmerzlichsten) Lücken schließt der vorliegende Band von Kathleen Coleman. Beinahe zwei Jahrzehnte war er in Arbeit; sein Erscheinen erwarteten in den letzten Jahren nicht nur Liebhaber flavischer Dichtung mit wachsender Ungeduld. Denn angesichts der spezifischen Herausforderungen des Liber Spectaculorum ließ sich in der Tat kaum eine idealere Besetzung denken als die Latinistin aus Harvard, die sich bereits mit einem viel zitierten Statius-Kommentar ausgewiesen und vor allem mit einem legendären Aufsatz als exzellente Kennerin der römischen Arena etabliert hat.2 Um es kurz zu machen: Das Warten hat sich gelohnt. Martials Liederkranz für Kaiser Titus’ Amphitheatrum Novum (in der modernen Literatur meist Amphitheatrum Flavium) erstrahlt in frischem Glanz wie ein vom Staub und der Patina langer Jahrhunderte befreites Fresko.

Eine Einleitung im Umfang einer kleinen Monographie eröffnet den Band. In so origineller wie organischer Reihenfolge geht es etwa um die heikle Nummerierung der Epigramme (Konkordanzen zur Zählung zentraler älterer Editionen warten am Ende des Bandes), die Textüberlieferung, den Titel des Werks oder Umfang und Charakter der ursprünglichen Sammlung, von der wohl nur eine späte Blütenlese auf uns gekommen ist. Die Frage nach der Identität des in verschiedenen Gedichten adressierten Caesar wird umsichtig erörtert (Coleman denkt an beide Söhne Vespasians: einige ältere Epigramme seien Titus gewidmet, eine jüngere Schicht Domitian). In etlichen archäologischen Details wird die Bühne des Liber Spectaculorum lebendig, das Kolosseum. Coleman reflektiert aber auch über die kaiserlichen Festspiele als Instrumente imperialer (Selbst-)Inszenierung und über die Panegyrik im Werk des Spaniers. Die Einleitung endet mit einem Höhepunkt der Rezeptionsgeschichte Martials aus der Renaissance: mit Niccolò Perottis wortgewaltigem Kommentar zum Liber Spectaculorum und zum Buch I der Epigramme (1489).

Der Kernteil des Bandes behandelt die 36 Epigramme in der stets gleichen Anordnung: Text und Apparat (beides von Coleman neu erstellt; hilfreich wäre eine Liste der Abweichungen von z.B. Shackleton Baileys Teubneriana), Prosaübersetzung, Einführung in das Gedicht sowie Zeilenkommentar. Mit welcher Liebe zum realistischen Detail Coleman hier zu Werke geht, verrät jede Seite. Ob es nun um die Eigenschaften antiken Vogelleims geht (S. 121–124), um Fragen athletischer Haartracht (S. 72–75), um den ominösen Mimus des legendären Straßenräubers Laureolus (S. 82–84), um Dompteure und Tiertrainer (S. 114–117) oder Seeschlachten und Wasserballette in der gefluteten Arena (S. 212–214), um die antiken Weltwunder (S. 1–5), die Fülle der im Reich gesprochenen Sprachen (S. 51f.) oder – auf einer anderen Ebene – Martials metrische Raffinessen oder typische Strukturen seiner Epigramme – ausgewogen und wohlinformiert erteilt Coleman Auskunft. Und spielt Martial einmal kurz auf die Quellen des Nils an (spect. 3,5), so ist ihr das glatt einen eigenen Exkurs wert, und wir hören die viel zu wenig bekannte Geschichte von jener legendären Expedition, die vor zwei Jahrtausenden ein wissensdurstiger Kaiser Nero ins Herzland Afrikas entsandte (S. 267–269).

Eine begreifliche Schwäche hegt Coleman für die Fauna des Amphitheaters – ob es nun um die drei typischen Aufgaben der Braunbären in der Manege geht (S. 87; zu schottischen Bären in Rom siehe S. 88f.), um Elefanten auf dem Hochseil (S. 150f.), um eine kleine Kulturgeschichte des Rhinozeros bis in die Renaissance (S. 101–106) oder um die Raubkatzendressur im Allgemeinen (S. 114–117). Zu klären wäre freilich, ob es sich bei dem viel zitierten ‚hyrkanischen‘ Tiger wirklich um die indische Spezies handelt, die bis nach Armenien vorgedrungen sei (vgl. S. 162). Moderne zoologische Handbücher sprechen von dem mit dem Bengaltiger verwandten und erst vor einem Jahrhundert ausgestorbenen Kaspi-Tiger (Panthera tigris virgata), dessen Ausbreitungsgebiet sich von Afghanistan über Iran und den Kaukasus bis in die östliche Türkei erstreckte.

Der Erkenntniszuwachs von Colemans Kommentar lässt sich am ehesten ermessen, wenn man ein Gedicht wie spect. 6 liest, die Wiedergeburt der Pasiphae-Geschichte im Sand des Kolosseums. Coleman verfolgt nicht nur die Spuren jenes Mythos in der zeitgenössischen Literatur und Kunst, sie referiert auch römische ikonographische Belege für weibliche Zoophilie und wägt so seriös wie unbefangen die Wahrscheinlichkeiten, dass solche Szenarien mythisch verbrämt den Weg in die Manege fanden. Wichtige Indizien bieten Nachrichten aus Neros Zeit, aber beispielsweise auch der Roman des Apuleius (met. 10,34; zit. S. 64). So kommen kaum Zweifel daran auf, dass es sich um eine realistische Inszenierung der entscheidenden Episode handelt. Zu diesem Behuf studiert Coleman nicht nur das Paarungsverhalten des Stiers und die leichte sexuelle Manipulierbarkeit des stolzen Tiers (Zierat ist meines Erachtens der Exkurs über das ‚Flehmen‘ und das ‚Jacobson-Organ‘), sondern referiert auch mit quälender Klarheit die fatalen Konsequenzen einer solchen Begegnung für die Anatomie des weiblichen Gegenparts (S. 65; ähnlich ungeschminkt S. 90–92 die Auslassungen über die Kreuzigung und andere Todesstrafen am Holz). Das römische Publikum war offenbar hart im Nehmen.

Kurz drei kritische Fußnoten: (1) Bei dem Zyklus der ‚schwangeren Sau‘ (spect. 14–16) würde ich kaum von einer natürlichen ‚Geburt‘ sprechen, vielmehr von einem höchst gewaltsamen ‚Kaiserschnitt‘ – im wahrsten Sinne des Wortes (vgl. spect. 14,1: Caesareae discrimina saeva Dianae). (2) Zu dem in der Arena von einem Bären zerfleischten ‚Verbrecher‘ (spect. 7,5–6: vivebant laceri membris stillantibus artus / inque omni nusquam corpore corpus erat) gibt es mehrere erstaunliche Parallelen, allen voran Ovids geschundenen Marsyas (met. 6,387–391: clamanti cutis est summos derepta per artus, / nec quidquam nisi vulnus erat; cruor undique manat eqs.). Und in dem berühmten Sendschreiben über die Märtyrer von Lyon (177 n.Chr.) heißt es von einem mit glühendem Metall gefolterten Christen, sein Leib sei „eine einzige Wunde und Verletzung, verkrampft und aus der menschlichen Gestalt herausgewunden“ (Eus. hist. eccl. 5,1,3–2,8; zit. 5,1,23). (3) Leicht irreführend sind die anatomischen Hinweise zu der Junktur iugulum fodere (spect. 9,8), die wohl die iugulatio umschreibt, den senkrechten, von oben geführten Schwert- oder Dolchstoß in die Kehle eines unterlegenen und nicht begnadigten Gladiators oder eines zum Tode Verurteilten.3

Wer Colemans sensationellen Kommentar studiert, fühlt sich nicht selten wie im Kino: „Everything you always wanted to know about ancient Rome, but were afraid to ask.“ Denn wo in der wissenschaftlichen Literatur wird Antike so lebendig wie hier? Coleman gelingt das Kunststück. Ihr gebührt unser herzlicher Beifall.

Anmerkungen:
1 Zu Buch 1: Citroni 1975 und Howell 1980; Buch 2: Williams 2004; Buch 3: Fusi 2006; Buch 4: Moreno Soldevila 2006; Buch 5: Howell 1985 und Canobbio 2002; Buch 6: Grewing 1997; Buch 7: Galán Vioque 2002; Buch 8: Schöffel 2002; Buch 9: Henriksén 1998/99; Buch 10: Damschen und Heil 2004 (kein Kommentar im strengen Sinn); Buch 11: Kay 1985; Buch 13: Leary 2001; Buch 14: Leary 1996.
2 Fatal charades. Roman executions staged as mythological enactments, in: The Journal of Roman Studies 80 (1990), S. 44–73.
3 Vgl. u.a. Seneca Troades 44–50; Passio Perpetuae 21,9; Ville, G., La gladiature en Occident des origines à la mort de Domitien, Rom 1981, S. 424f.

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